Einig Vaterland

Deutschland. Heute, am trüben 3. Oktober 2007, geht die „deutsche Einheit“ in ihr XVIII. Jahr. Im Straßenbild sind die Spuren des untergegangenen selbsternannten Arbeiter-und-Bauern-Staates „DDR“ fast getilgt. Längst wächst eine neue Generation heran, die den deutschen Staat „DDR“ nur aus Erzählungen, Geschichtsbüchern und Comics kennt, sich aber in einem seltsamen Stolz als „ostdeutsch“ definiert.

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Tief im Osten ist es besser als man denkt

Wie steht es um die deutsche Einheit? Die Angleichung der Lebensverhältnisse ist abgeschlossen - wer anderer Meinung ist, möge in diesem Blatt einen Weblog eröffnen und diese kundtun. Auch wenn die Arbeitslosigkeit als einer der möglichen Angleichungsmaßstäbe in den meisten Ost-Regionen höher als im Westen ist und die Ost-Arbeitsproduktivität noch immer hinterherhängt und zu langsam steigt, Fakt ist: Es lassen sich viele Kriterien finden, nach denen sich’s im Osten besser lebt. Und hungern oder frieren muss eh keiner, höchstens auf den neuesten Schick und den Neuwagen verzichten. Im Gegensatz zur früheren Mangelwirtschaft kann man eben nicht alles kaufen, was der Handel anbietet.

Wo liegt das "Plus" im Osten? Da ist an erster Stelle zu nennen die bessere Kinderbetreuung, vor allem im ländlichen Raum. Kinderbetreuungsplätze sind nicht wirklich ein Problem. Konkretes Beispiel aus Ostsachsen: In Boxberg sind die Schülermahlzeiten frei. Geht doch, möchte man sagen. Oder Studiengebühren - im Osten Fehlanzeige, abgesehen von besseren Studienbedingungen vor allem an den kleineren Hochschulen. Beispiel Infrastruktur: Auch hier hat der Osten dank der Nachwendeinvestitionen die Nase vorn. Ganz zu schweigen von den billigeren Mieten und Wohnimmobilien inmitten reizvoller Landschaften. Für die sächsischen Rangregionen ist die Nähe der Billigländer Tschechien und Polen zu erwähnen, der Einkaufstourismus sorgt bei unseren Freunden noch immer für einen Speckgürtel entlang der Grenze.

Wenn nun mancher jenseits von Werra und Elbe sagt, das sei nun „alles aus unserem Soli bezahlt und die Ossis machen selbst viel zu wenig“, dann hat er nur sehr wenig Wahrheit in seinen Worten. Schließlich wird der Solidaritätsbeitrag auch im Osten erhoben. Die erste große Wirtschaftshilfe leistete der Osten an den Westen, als die großen Betriebe auf der Flucht vor den Sowjets in den Westen gingen - was wäre Oberkochen heute ohne Carl Zeiss, was wäre Ingolstadt ohne Audi? Nicht zu vergessen das Ausbluten Ostens, als leistungsfähige und -willige Menschen zu Hunderttausenden in den Westen gingen, als Rohstoffe und Konsumgüter wegen der „Spaltermark“ aus der Sowjetischen Besatzungszone in den Westen verschoben wurden. Kleine Lektion für Verdränger und Vergesser: Gespalten wurde Deutschland mit der Bildung der westdeutschen Trizone, der dort durchgeführten Währungsreform und schließlich der Gründung der Bundesrepublik Deutschland, die übrigens auch bei der Wiederaufrüstung die Nase vorn hatte - der Osten zog jeweils nur nach. Nicht zu vergessen der Marshall-Plan (das European Recovery Program, von den die deutsche Wirtschaft noch heute profitiert), mit dem die westdeutsche Wirtschaft angekurbelt wurde, während der Osten die Kriegsreparationen an die Sowjetunion zahlte. Geschichte, vorbei, aber gut zu wissen.

Es war das nach 1989 importierte Wirtschaftssystem, das vielen Menschen im Osten die Möglichkeit nahm, die Verbesserung der privaten Lebensverhältnisse „selbst zu machen“. Genau dieses System einen erheblichen Anteil der Bevölkerung in Lethargie gestürzt, die schließlich in den Hartz IV - Gesetzen zementiert wurde. Wer einmal im Arbeitslosengeld II - so der offizielle Sprachgebrauch - gelandet ist, der ist stigmatisiert und hat schlechte Chancen, wieder auf die Sonnenseite der Leistungsgesellschaft zu gelangen. So entsteht das Prekariat.
Jedoch auch auf anderen Ebenen steht der Osten im zweiter Reihe. Im Deutschlandfunk analysierte neulich ein Wissenschaftler, das Problem seien die Sprechpausen. Während Ostdeutsche bei Diskussionen meist erst nach zwei Sekunden Pause das Wort ergriffen, läge diese Zeitspanne bei Westdeutschen gewöhnlich bei einer Sekunde. In der Praxis zeige sich, so der Wissenschaftler, dass Ostdeutsche an Diskussionen, beispielsweise in Fachkreisen, zwar reges Interesse haben, wie die Körpersprache zeige, aber kaum einmal das Wort ergriffen. Eine für Westdeutsche regelrecht unverständliche Verhaltensweise. Ostdeutsche hingegen empfänden ihre westdeutschen Kollegen oft als Dauerredner und Selbstdarsteller mit wenig Substanz.
Vielerorts im Westen scheint der Osten nicht stattzufinden. So sind Ostdeutsche auf Kongressen uns Seminaren oft nur unterproportional vertreten, der Osten als Veranstaltungsort hingegen reduziert sich oft auf Berlin - was sicher seine ganz nüchternen Gründe hat. Allerdings lassen sich - mit kritischem Blick - neben gegenläufigen auch Tendenzen zum "Einigeln" des Ostens erkennen; Verunsicherung und Scheu vor der Eloquenz westdeutscher Verantwortungsträger sind nicht von der Hand zu weisen.

Liebe ostdeutsche Landsleute, es gibt doch keinen Grund, sich zurückzuhalten! Vor allem jene Generation, die das DDR-System noch bewusst erlebt hat, muss sich einbringen. Wer kann schon auf Lebenserfahrung in zwei unterschiedlichen Wirtschaftssystemen verweisen? Es ist doch beileibe nicht so, dass nun „der Kapitalismus den Sozialismus besiegt“ hat, dass alle gesellschaftlichen Entwicklungsansätze im Osten falsch waren. Die Schwarz-Weiß-Malerei der Nachwendezeit gehört ins Archiv. Zögerlich nimmt die Bundesrepublik Erfahrungen aus dem Osten an: Kinderbetreuung und Polikliniken sind die Vorboten. Es kommt nur darauf an, die fortschrittlichen Ansätze der DDR-Gesellschaft vom ideologischen Ballast zu befreien und die Politiker-Kaste nie vergessen zu lassen: Wir sind das Volk!

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  • Quelle: /Fritz Rudolph Stänker | Grafik: /MS | Update vom 03.10.2007 11:29 Uhr
  • Erstellt am 03.10.2007 - 08:36Uhr | Zuletzt geändert am 04.10.2007 - 11:28Uhr
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