9. November als Tag des Gedenkens

9. November als Tag des GedenkensGörlitz, 5. November 2020. Der 9. November hat es für die Bundesbürger in sich: Auf diesen Tag fallen gleich mehrere historische Meilensteine. Wer nun aber glaubt, dass automatisch die Lehren aus der Geschichte gezogen werden, der irrt. Das mindeste, was man tun kann, ist zu erinnern und zu mahnen. Aber im Grunde reicht das nicht: Geschichte ruft geradezu zur Auseinandersetzung, vor allem, wenn man selbst oder die eigene Familie betroffen ist.

"Ich habe Gott stets vor Augen" ist über dem Thoraschrein – hier während der Sanierung – der 1911 eingeweihten Neuen Synagoge zu Görlitz zu lesen
Foto: © Görlitzer Anzeiger
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Gedenken in Görlitz wird ohne öffentliche Veranstaltung digital übertragen

Gedenken in Görlitz wird ohne öffentliche Veranstaltung digital übertragen
Von November 2010 bis Januar 2011 war in der neuen Synagoge zu Görlitz die Ausstellung "Jüdische Spurensuche" von Jörg Beier, Schwarzenberg, zu sehen, die Anhand von Zeitdokumenten an das Schicksal von Juden während der Zeit des Nationalsozialismus und danach nicht nur in Deutschland, sondern weltweit erinnerte
Foto: © BeierMedia.de

Thema: Jüdisch

Jüdisch

Juden hatten und haben einen großartigen Anteil an der Entwicklung Deutschlands in Wissenschaft, Kultur und Wirtschaft. Leben ist undenkbar ohne die Erinnerung an die Zeit, als es in Deutschland ausreichte, Jude zu sein, um verhaftet, deportiert und umgebracht zu werden, wenn man nicht rechtzeitig geflohen war.

Der Mangel an Auseinandersetzung öffnet Fehlinterpretationen Tür und Tor. Darüber wird im Zusammenhang mit dem Volkstrauertrag noch zu berichten sein. Der wird nämlich in einigen Orten so begangen, dass man sich unheilvoll an den Heldengedenktag, den die Nazis aus ihm gemacht hatten, erinnert fühlt.

In der Stadt Görlitz ist es gute Tradition, jährlich am 9. November der Novemberpogrome des Jahres 1938 und dem Fall der Berliner Mauer im Jahr 1989 wenigstens zu gedenken. Doch beruft sich die Stadt Görlitz in diesem Jahr auf die aktuelle Sächsische Corona-Schutz-Verordnung und teilt mit, wegen dieser könne die ökumenische Andacht in der Frauenkirche mit anschließendem Schweigeweg zur Neuen Synagoge, dem heutigen Kulturforum Görlitzer Synagoge, nicht stattfinden. Stimmt, denn § 2 Absatz (1) regelt den gemeinsamen Aufenthalt in der Öffentlichkeit und begrenzt diesen auf fünf Personen, wenn mehr als zwei Hausstände zusammenkommen, und Absatz (4) macht Ausnahmen für Kirchen neben Beisetzungen nur zum Zwecke der Religionsausübung, was für die Teilnehmer der ökumenischen Andacht vermutlich nicht in jedem Fall zutreffen würde.

Um als Görlitzer Stadtgesellschaft trotz der widrigen Umstände ein würdiges Gedenken durchzuführen, lädt die Stadtverwaltung Görlitz nun herzlich zu einem virtuellen Gedenken ein: Am Montag, dem 9. November 2020, soll um 18 Uhr auf der Facebook-Seite von Oberbürgermeister Octavian Ursu eine Gedenkveranstaltung live übertragen werden. Später soll die Übertragung dann auch auf dem YouTube-Kanal der Stadtverwaltung Görlitz als Video verfügbar sein.

Als Teilnehmer der Gedenkveranstaltung wollen Oberbürgermeister Octavian Ursu, Generalsuperintendentin Theresa Rinecker, Bischof Wolfgang Ipolt sowie Dr. Markus Bauer, Vorsitzender des Förderkreises Görlitzer Synagoge e.V., gedenkende Worte sprechen. Jüdische Stimmen werden demnach nicht zu vernehmen sein.

Der 9. November – ein markanter Tag

    • 9. November 1918: Deutschland wird Republik

      Der Kaiser hat abgedankt! Jedenfalls hatte Reichskanzler Max von Baden angesichts des bevorstehenden Desasters der deutschen Truppen im Weltkrieg – von dem man erst nach dem Zweiten wusste, dass es erst der Erste war – eigenmächtig die Abdankung Kaiser Wilhelms II. verkündet. Die kaiserliche Majestät war zu diesem Zeitpunkt gar nicht in Berlin, sondern im deutschen Hauptquartier in Belgien. Wegen der heimatlichen Turbulenzen wurde Wilhelm Zwo einer der ersten Asylbewerber – und zwar in den Niederlanden, wo Königin Wilhelmina ihre schützenden Fittiche über den sich später immer stärker antisemitisch äußernden Ex-Kaiser ausbreitete. Wilhelms Wohnort, das kleine Schloss "Haus Doorn", wo er 1941 auch beigesetzt wurde, hatte sich zu seinen Lebzeiten zu einem Pilgerort nationalkonservativer Kreise entwickelt. In der Süddeutschen Zeitung schreibt Oliver Das Gupta darüber, "Wie sich Wilhelm II. über Hitlers Erfolge freute".

      Zurück nach Berlin: Hier ruft am 9. November 2018 kurz nach 14 Uhr Philipp Scheidemann (SPD) aus einem Fenster des Reichstags heraus die "Deutsche Republik" aus – um karl Liebknecht zuvorzukommen. Da gelingt, denn erst gegen 16 Uhr, tut es ihm Karl Liebknecht (USPD/Spartakusbund, später KPD-Mitbegründer) gleich und ruft im Lustgarten vor dem Berliner Stadtschloss eine Freie Sozialistische Republik Deutschland aus und spricht nach der Erstürmung des Schlosses vom Balkon, was als weitere Ausrufung interpretiert wird. Fußnote der Geschichte: Eine freie Nachkriegs-Republik gab es erst nach der zweiten großen Niederlage in einer Region, in die die Befreier nicht einrücken wollten, sondern sich ausdrücklich herbeibeten ließen.

    • 9. November 1923: Hitler-Ludendorff-Putsch in München

      Der fünfte Jahrestag der Ausrufung der deutschen Politik war dem damals noch weitestgehend unbekannten Adolf Hitler, Parteichef der NSDAP, Anlass, um in München gegen die demokratische Reichsregierung zu putschen. Nach wenigen Stunden war das Abenteuer vor der Münchner Feldherrnhalle beendet. Die 16 Todesopfer wurden später vom "Führer" zu "Blutzeugen der Bewegung" hochstilisiert, Hitler selbst wurde erst einmal zu fünf Jahren Festungshaft verknackt, aber schon nach neun Monaten wieder entlassen – "wegen guter Führung".

    • 9. November 1938: Reichspogromnacht

      Die von den Nazis angezettelten und inszenierten antijüdischen Pogrome wüteten vom 7. bis zum 13. November 1938, ihren Höhepunkt hatten sie am 9. November erreicht. Nicht nur aufgehetzte Bürger, sondern auch Angehörige paramilitärischer Verbände in Zivil brachten hunderte Juden um, demolierten Geschäfte und brannten Synagogen nieder. Der NS-Staat ging damit von der Ausgrenzung und Diskriminierung der der jüdischen Bevölkerung und weiterer Minderheiten zur offenen Verfolgung über, die schließlich den industriell organisierten Mord hervorbrachte.

    • 9. November 1967: Die 68er-Bewegung findet ihr Leitmotiv

      An der Universität Hamburg – fröhliches Kürzel ist UHH – soll eine neuer Rektor eingeführt werden – und zwar, wie üblich, schön feierlich. Der ursprünglich als Hochschulverband der SPD gegründete Sozialistische deutsche Studentenbund (SDS) unterstützte die außerparlamentarische Opposition (APO). Die Vorsitzenden des Allgemeinen Studentenausschusses (AStA oder ASten) Detlev Albers und Gert Hinnerk Behlmer erhoben auf der Veranstaltung ein Transparent mit der Aufschrift "Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren". Tatsächlich brachte die 68er-Bewegung Reformen und Weiterentwicklungen im Hochschulbereich. In Hamburg etwa verabschiedete die Bürgerschaft im Jahr 1969 ein Universitätsgesetz, durch das die Fakultäten aufgelöst wurden; insgesamt wurde die Selbstverwaltung der Universität gestärkt. Nachdem sich die Lage beruhigt hatte, wurdem 1979 im Hochschulgesetz die Reformen auf richterliche Weisung teils rückgängig gemacht.

    • 9. November 1989: Die Berliner Mauer fällt

      Mauerfall ist nicht ganz richtig: Sie wurde überwunden und die Mauerspechte begannen, ihr zuzusetzen. Ob das nun ein Erfolg der Friedlichen Revolution war oder viel stärker eine materielle Entäußerung der dumpfen Unzufriedenheit jener "DDR"-Bürger, die auf den "goldenen Westen" mit seinen Verheißungen schielten: Der Schabowski-Satz über die Grenzöffnung lieferte nur noch den Funken, der eine neue Epoche zündete.

    • 9. November 2020: In Görlitz erfolgt das Gedenken erstmals digital

      Auch hier sollte man die leichtfertige Formulierung scheuen: Nicht das Gedenken erfolgt digital, sondern digitale Wege eröffnen die Möglichkeit zur Teilnahme. Gedenken ist eine Angelegenheit des Verstandes in einer Mischung aus der Beschreibung des Geschehenen, das nicht mehr korrigierbar ist, aus damit verbundenen Gefühlen und nicht zuletzt den Schlussfolgerungen, die das eigene Denken und Handeln beeinflussen.

Juden und Görlitz: die Sicht von außen

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  • Quelle: red/TEB | Fotos: © Görlitzer Anzeiger / BeierMedia.de
  • Erstellt am 05.11.2020 - 05:56Uhr | Zuletzt geändert am 05.11.2020 - 09:08Uhr
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