Vorhang zu!

Görlitz, 3. Juli 2006. Gestern schloss die hochkarätig bestückte internationale Videokunstausstellung in der Görlitzer Stadthalle. Fast 1.700 Besucher erlebten perfekt inszenierte Medienkust in einem verfremdeten Gebäude.

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Ein Nachruf auf die internationale Videokunstausstellung zu Görlitz. Die schloss gestern ihre Pforten.

Kennst Du das Gefühl, im Intercity zu sitzen und einer zieht die Notbremse? So trifft es Dich, wenn Du aus der Alltagshektik in die Görlitzer Stadthalle stürmst, um Dir noch schnell die Videokunstaustellung ´reinzuziehen.

Extreme Entschleunigung ist das rechte Wort für das Gefühl, das sich beim Betreten von Julian Rosefeldts „Asylum“ im Großen Saal einstellt. Das geht nicht im Schnelldurchlauf, das fordert seine Zeit.

Der unvorbereitete Betrachter erlebt eine kurze Orientierungslosigkeit inmitten der Projektionswände, bis dann endlich die Sinne beginnen, die Szenen zu erfassen und dem Thema - Klischeevorstellungen vom Fremdsein in Deutschland - zuzuordnen. Und wir - die Besucher - stehen mittendrin in dieser Welt der vorgefassten Meinungen.

Jetzt mehr! Im Eingangsbereich der dank Lichtaussperrung verfremdeten Stadthalle sind kleine Kinos entstanden. Wir landen auf einem Sofa und erleben den Schönheitsrausch - ein Ausschnitt aus „Der König des Waldes“ - von AES-F aus Moskau.

Weiter! Aufmerksam beobachtet vom omnipräsenten Ausstellungspersonal hoch in den ersten Stock.

Unterwegs rot-blaue Neonbeleuchtung. Noch nie war die Görlitzer Stadthalle so spannend, so wichtig. Manche verhüllen ganze Gebäude, um für ihre Bedeutung zu sensibilisieren - Görlitz nutzt sein Jugenstil-Kleinod noch einmal vor der großen Renovierung und lässt es in anderem Licht erscheinen.

Überall Besucher, die von Bildschirmen gebannt sind, als ob der Ausblick in andere Welten gezeigt würde. Tatsächlich . . .

Abgeschirmt in einer Box sehen wir Hector Solaris último_vuelo. Die Dokumentation des 9/11 - aus wessen Sicht eigentlich? Ein Fluggast, der in seinen letzten Minuten aus dem Fenster schaut? Oder, wie es die letzte Perspektive ahnen lässt, einer der Entführer, hochkonzentriert, glücklich, denn endlich manifestiert sich sein aus Ohnmacht geborener Hass materiell.

An der Box hängt das Fragment eines Transparents „Je stärker der Sozialismus, um so sicherer der Friede . . .“, jedoch kommt keine Wehmut auf an die Zeit, als Gut und Böse noch eindeutig definiert schienen.

Pop! Michael Jackson! Guckst Du doch auch gern! Der nette kleine Michael wird unter seinem hämmernden Beat zur zerstörten Gestalt. Das Schöne in einem Pakt für den Erfolg verkauft, ein moderner Faustus. Una Szeemann, eine Schweizerin in New York, hat „Thrill me“ geschaffen.

Vorbei an netten Bardamen zum kleinen Saal, Stopp! Ein Flügel wie ein Guckkasten (wer das noch kennt) bremst uns.

Catarina Campino aus Portugal hatte den Einfall, in den Korpus ein Theater einzubauen.

Und was da so nett anzusehen ist, wird durch die Figuren zur Anspielung auf die Massenkultur: Auf Erwachsen sein und Show getrimmte Kinder. Die frühzeitige Anpassung an eine künstliche und sinnentleerte Massenkultur als Ideal. Die Mini-Playback-Show entlarvt - das kann Kunst!

Endlich im Kleinen Saal. Der Einbau für die Videoinstallationen im Kontrast zum Glanz des Raumes. Plötzlich wird mir klar: Das ist nicht nur eine Videokunstausstellung, die altehrwürdige Stadthalle ist verwoben mit ihr zu einem Gesamtkunstwerk. So schön ist der Kleine Saal!

Und Erinnerungen werden wach, Betriebsjubiläum in den Achtzigern, 40 Jahre Feinoptisches Werk, die werktätigen Massen werden im Großen Saal der Stadthalle abgespeist, als die Durchsage ertönt „Die Genossen Kämpfer feiern im Kleinen Saal!“ Dieser Satz wird unter den damals Beteiligten bis heute benutzt, wenn sich „Eliten“ absondern, um sich „was Besonderes“ zu gönnen.

Mitten auf der Bühne - da schmilzt er hin, der Klossner-Franticek aus der Schweiz, hängt an einem langen Seil, sein Ebenbild aus Eis, tropft zu Boden, bringt damit die Projektion durcheinander.

Na, so einer ist das also! Ein schönes Gleichnis, ein Idyll gar, wenn’s nicht was von Traurigsein hätte.

Gleich gegenüber ein Eingangstor, ich meine, dreihundert Jahre zurück zu blicken, so intensiv ist die Stimmung, erzeugt von kontrastreichen schwarzen-weißen Bildern.

„Pitfall“ heißt das Werk der Italienerin Elisa Sighicelli, das ein düster-beängstigende Form von Romantik zeigt.

Alles zu erfassen in nur einem Rundgang - unmöglich. Deshalb sind hier nur einige Künstler und Werke ausgewählt.

Raus! Ans Licht! Zurück in die Reality!

Und noch mal umdrehen zur Stadthalle: Der einzigartige Bau kann - da steht jetzt q.e.d. darunter - mehr sein als ein Bühnenort.
Als Kulturstadt hat Görlitz eine Welt zu gewinnen. ´S braucht bloß bissel Mut.

In diesem Sinne danke an die Crew der Geschäftsstelle Görlitz-Zgorzelec Kulturhauptstadt Europas 2010, danke an Peter Baumgardt als Künstlerischen Leiter für´s Mut haben und Mut machen.

Die Videokunstausstellung - das ist wieder ein kleiner Schritt in Richtung auf das „Forum for Arts & Media“, eines der Brückenpark-Projekte. Mit diesem Forum hat Görlitz die Chance, ganz vorn mitzuspielen und weiter an Attraktivität zu gewinnen.

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  • Quelle: /S. Stepper
  • Erstellt am 03.07.2006 - 14:28Uhr | Zuletzt geändert am 28.06.2020 - 11:52Uhr
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